December 22, 2000 Engel im TiefflugWas man aus Alter Musik machen kannDieses Werk kommt aus Australien auf einer opulent ausgestatteten Doppel-CD eine höchst originelle Auseinandersetzung mit Alter Musik, die bewundernswerte Phantasieentfaltung eines großen Geistes. Winsome Evans hat ihren 1967 gegründeten "Renaissance Players" mit "Archangels' Banquet/Shepherds' Delight" ein breites Thema vorgegeben, unter dessen Dach man so ziemlich alles aus der Menschheitsgeschichte unterbringen kann, denn zwischen den Verkündigungen der Erzengel und den Empfängern der Botschaft hienieden spielt sich sozusagen das ganze Leben ab. Die schweifende Neugier der Professorin aus Sydney hat nichts mit akademischen Grübeleien über Werktreue und historische Aufführungspraxis zu tun, allerdings auch nichts mit Provokationen um ihrer selbst willen. Sie instrumentiert mit Glocken, Mandolinen, irischem Tamburin, Blechflöten, Kastagnetten, türkischer Trommel, bulgarischer Geige, ungarischer Klarinette und griechischer Bouzouki, Barockviola, Gemshorn, Harfe, Cembalo die beiden letztgenannten spielt sie brillant selbst. Ihre Quellen sind Lieder- und Hymnenbücher verschiedener Jahrhunderte und Bekanntheitsgrade. Wenn die "Hirten" gerade mal wieder zu einem Fest aufgelegt sein müßten, zitiert Winsome Evans irische Tanzmusik und freut sich über kirchentonartliche Verwandtschaften mit der mittelalterlichen Kunstmusik. Sie läßt ihre Musiker Zwischenspiele und Verzierungen improvisieren, bringt Zitate aus ganz unterschiedlichen Stücken zusammen, verwendet orientalische Skalen in der Vermittlung durch jüdische Musik oder Klänge vom Balkan, komponiert neue Vor- und Nachspiele und behutsame Harmonisierungen einstimmiger Melodien. Und wenn ihr ein Text unterkommt, der ihr gefällt, aber ohne Musik überliefert ist, vertont sie ihn neu - etwa für vier Soprane, zwei Barockcelli und Harfe, in einem Stil, der so im Mittelalter nicht möglich gewesen wäre, aber den "Geist" dieser Musik nie korrumpiert. Winsome Evans benutzt spanische, deutsche, französische, griechische
Quellen, und immer wieder solche aus England. Englischer Vokalkultur
sind auch die wundervoll schlanktönigen Sopranistinnen verpflichtet.
So wie vor allem Catherine Riley haben die Engel ganz sicher schon immer
gesungen. Diese Produktion des in Amerika lebenden deutschen Label-Chefs
Eckart Rahn eröffnet der Interpretation musikalischer Frühformen
eine Welt neuer Möglichkeiten. Die Aktualisierung "Alter Musik",
die hier aus sich selbst heraus ganz neue Unterhaltungsqualitäten
entwickelt, hat gerade erst begonnen.
April 12, 1993 Die Gastlichkeit des Gongs"The Hugo Masters": eine Anthologie klassischer Musik aus ChinaDie halbtonreichen Melodien, die zum Teil schon vor mehr als viertausend Jahren mit der Okarina, einer Gefäßflöte in der Form eines Gänseeis, und Glockenspielen aus Bronze und Stein musiziert wurden, sind heute fast vergessen. Zumal im Westen kennt man sie nicht. Um so mehr lassen jetzt "The Hugo Masters" aufhorchen: vier CDs in einem mit gelber Seide bespannten Schuber, die sich mit den Streich-, Zupf-, Blas- und Perkussionsinstrumenten Chinas beschäftigen, ihren Einfluß auf bestimmte Epochen erläutern und damit die oft rätselhaften Muster fernöstlicher Musiktradition zumindest teilweise entschlüsseln. Ihren Namen verdankt die Kollektion dem "Hugo"-Label - einer Plattenfirma, die Aik Yew-goh in den letzten Jahren zu einem Klangreservat für die von ihm zusammengetragenen akustischen Schätze ausgebaut hat. Daß die Ergebnisse seiner Ahnenforschung jetzt auch im Abendland Beachtung finden, ist das Verdienst von Eckart Rahn, der Aik Yew-goh das Tor zur Welt öffnete und sich selbst damit einen Traum erfüllte. Schon immer wollte Rahn, der sich als Chef der Labels Kuckuck und Celestial Harmonies einen Namen machte, die Geschichte der klassischen chinesischen Musik so nacherzählen, daß auch Europäer und Amerikaner mit Interesse zuhören können. Die gelbe Box, die die Essenz des bisherigen Schaffens Aik Yew-gohs enthält, ist ein Glücksfall für Freunde fernöstlicher Klänge - sowohl in konzeptioneller als auch in aufnahmetechnischer und gestalterischer Hinsicht. Schon die vier Begleithefte überzeugen durch ihre liebevolle Aufmachung und den informativen Inhalt. Hier finden sich neben einem kurzen Abriß der Entwicklungsgeschichte chinesischer Musik akribische Beschreibungen sämtlicher Instrumente und Stücke; jedes einzelne Booklet ist ein kompetenter Reiseführer durch die asiatische Lebenskunst. Vier Stunden dauert der Ausflug in die fernöstliche Hemisphäre; vier Stunden abseits der stromlinienförmigen Autobahn westlicher Musikkonventionen. Der Weg führt mitten hinein in unbekanntes Terrain; dorthin, wo man den belegten Ton des Bambusrohres kennenlernen, die emotionale Kraft des Gongs spüren und sich von unruhiger Perkussion verwirren lassen kann. Die Schablone vertrauter Muster taugt nicht viel in dieser Fremde. Wer sich jedoch auf "The Hugo Masters" einläßt, erfährt schon bald Gastfreundschaft.
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